Die neue Bundesregierung aus Union und SPD unter der Führung von Bundeskanzler Friedrich Merz ist am 14. August 100 Tage im Amt – aus Sicht der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld (IHK) fällt die wirtschaftspolitische Zwischenbilanz ernüchternd aus. Die erhoffte Aufbruchsstimmung sei bislang ausgeblieben. „Die Ankündigung eines wirtschaftlichen Neustarts wurde bislang nicht eingelöst. Wir sehen bestenfalls einen Einstieg – aber noch keine Trendwende“, kritisiert IHK-Präsident Jörn Wahl-Schwentker. Zwar enthalte etwa das beschlossene Investitionspaket mit steuerlichen Anreizen erste richtige Ansätze, doch reiche das bei weitem nicht aus, um den Wirtschaftsstandort Deutschland und damit auch Ostwestfalen wirklich voranzubringen. „Was fehlt, ist ein konsistenter und mutiger Kurs, der sich an den realen Herausforderungen der Unternehmen orientiert – bei Energie, bei Steuern, bei Bürokratie, bei der Wettbewerbsfähigkeit insgesamt“, so Wahl-Schwentker.
Besonders kritisch bewertet die IHK die Entscheidung der Bundesregierung, die angekündigte Stromsteuersenkung für alle zu streichen und nur auf wenige Betriebe zu begrenzen. „Das war ein zentrales Versprechen im Koalitionsvertrag – und wäre gerade für die Wirtschaft in ihrer ganzen Breite, aber auch die privaten Haushalte, ein wichtiges Signal gewesen. Die Abkehr von diesem Vorhaben sendet das Gegenteil von Verlässlichkeit“, betont der IHK-Präsident. Die Energiepreise seien weiterhin ein massiver Belastungsfaktor – und ein zentraler Wettbewerbsnachteil im internationalen Vergleich. „Die Bundesregierung muss hier dringend nachbessern. Wer einen wettbewerbsfähigen Standort will, darf diese Belastung nicht einfach hinnehmen.“
Auch in der internationalen Handelspolitik sieht Wahl-Schwentker akuten Handlungsbedarf. Die kürzlich vereinbarte vorläufige Zolleinigung zwischen der EU und den USA könne nur ein erster Schritt sein. „Die Bundesregierung muss sich weiter engagieren, damit am Ende der ausstehenden Detailverhandlungen ein besseres Ergebnis steht als das bislang bekannte Modell, das vor allem einen pauschalen Basiszoll von 15 Prozent vorsieht, der für viele Branchen und Unternehmen eine deutliche Belastung und Verschlechterung darstellt“.
Darüber hinaus brauche es einen strategischen Kurs in der Außenwirtschaftspolitik. „Der freie Handel ist kein Selbstläufer. Umso wichtiger ist es, dass sich Deutschland und die EU entschlossen für offene Märkte einsetzen – mit neuen Abkommen und verlässlichen Handelspartnerschaften. Die Bundesregierung muss dabei eine Führungsrolle innerhalb Europas übernehmen. Gerade in Zeiten globaler Unsicherheit ist das ein zentrales Standortthema.“
Generell fordert der IHK-Präsident eine deutlich stärkere wirtschaftspolitische Ausrichtung der Regierungsarbeit. „Wirtschaft muss ein absolutes Fokusthema sein. Wir brauchen endlich eine klare Prioritätensetzung für nachhaltiges Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsinvestitionen“, erklärt Wahl-Schwentker. Es gehe nicht nur um kurzfristige Entlastungen, sondern um strukturelle Reformen: „Wir brauchen eine entschlossene Modernisierung des Staates – mit weniger Bürokratie, schnelleren Genehmigungen, bezahlbaren Lohnnebenkosten und Investitionen in Infrastruktur und Digitalisierung“, so der IHK-Präsident. Nur so könne Deutschland im internationalen Standortwettbewerb bestehen. „Die Bundesregierung muss die kommenden Monate nutzen, um Vertrauen zurückzugewinnen und die wirtschaftspolitischen Versprechen nun konsequent umzusetzen“, betont Wahl-Schwentker. „Der Standort braucht keine Zwischenlösungen, sondern entschlossene Strukturreformen und eine deutlich mutigere Agenda, um die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen.“